Rechtsmittelbelehrung bei Sprachschwierigkeiten

» LG Hamburg, Beschluss vom 22.05.2017 - 708 Ns 4/17 «

Kurzzusammenfassung

Der Beschuldigte war per Strafbefehl zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Leider war ihm die alte Juristenweisheit "Gehe niemals ohne Verteidiger zu Gericht!" und der Ablauf eines Strafverfahrens unbekannt. So versuchte er dann leider auch, sich in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht selbst zu verteidigen. Hierzu muss man wissen, dass ein Angeklagter, der ohne Verteidiger alleine vor Gericht erscheint, dem Richter und dem Staatsanwalt schutzlos ausgeliefert ist. Gerade bei einem Einspruch gegen einen Strafbefehl führt dies dann regelmäßig - wie auch hier - dazu, dass die Strafe noch einmal deutlich erhöht wird.

Nachdem das Amtsgericht den Angeklagten verurteilt hatte, belehrte es ihn mündlich über die möglichen Rechtsmittel und entsprechenden Fristen. Da der Angeklagte nur mittelmäßig Deutsch sprach und ihn die Gerichtsverhandlung sehr aufgewühlt hatte, verstand er die Belehrung jedoch nicht richtig. Er glaubte, er müsse die Berufung innerhalb einer Woche nach Erhalt des schriftlichen Urteils einlegen. Tatsächlich hätte er die Berufung aber innerhalb einer Woche nach der Gerichtsverhandlung einlegen müssen. Als er sich nach rund zwei Wochen beim Gericht erkundigte, wann er das schriftliche Urteil voraussichtlich erhalten werde, wies man ihn darauf hin, dass er die Frist für die Berufung bereits verpasst habe. Der Angeklagte tat dann sofort das einzig Richtige und wandte sich noch am selben Tag an unsere Kanzlei.

Wir legten für unseren Mandanten Berufung ein und beantragten die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Frist. Wir legten ausführlich dar, weshalb das Gericht den Mandanten nicht nur hätte mündlich belehren, sondern ihm hier ausnahmsweise hätte auch eine schriftliche Belehrung erteilen müssen. Die Staatsanwaltschaft zeigte sich wieder einmal wenig objektiv und beantragte mit dünner Begründung, unseren Wiedereinsetzungsantrag als unbegründet zu verwerfen. Das Landgericht Hamburg schloss sich jedoch unserer Auffassung an und gab unserem Antrag statt. Nachstehend finden Sie die Entscheidung im Volltext:


Volltext der Entscheidung


In dem Strafverfahren gegen

█████████ █████████████,
geboren am ████████ in ██████████/China, Staatsangehörigkeit: deutsch, wohn­haft: ███████████████ ████, █████████████

Verteidiger:
Rechtsanwalt Jürgen Just, Großneumarkt 24, 20459 Hamburg

wegen Beleidigung


beschließt das Landgericht Hamburg - Kleine Strafkammer 8 - durch die Vorsitzende Richterin am Landgericht Terborg am 22.05.2017:

Dem Angeklagten wird auf seinen Antrag hin Wiedereinsetzung in den Stand des Verfahrens vor Versäumung der Berufungsfrist gewährt.

GRÜNDE

I.

Dem in ██████████ geborenen Angeklagten, der die deutsche Staatsangehörigkeit hat und bisher nicht strafrechtlich in Erscheinung getretenen ist, ist durch Strafbefehl vom 29.06.2016 vorgeworfen worden, am 28.11.2015 in Hamburg einen Polizeibeamten beleidigt zu haben.

Auf seinen Einspruch hin ist der nicht verteidigte Angeklagte in der am 14.07.2016 vor dem Amtsgericht Hamburg geführten Hauptverhandlung wegen Beleidigung schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 70,- EUR verurteilt worden, wobei ihm Ratenzahlungen gewährt worden sind. Wegen der Einzelheiten der Entscheidung wird auf das schriftliche Urteil (Blatt 35-39 d. A.) Bezug genommen.

Ausweislich des Protokolls der amtsgerichtlichen Hauptverhandlung ist nach der Verkündung des Urteils eine "Belehrung über die zulässigen Rechtsmittel" erfolgt.

Mit am 27.07.2016 beim Amtsgericht Hamburg eingegangenem Schreiben hat der nunmehr gewählte Verteidiger beantragt, dem Angeklagten Wiedereinsetzung wegen des Versäumens der Berufungsfrist zu gewähren, und hat gleichzeitig Berufung eingelegt. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat er geltend gemacht, der Angeklagte habe in der erstinstanzliehen Hauptverhandlung aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse nicht verstanden, dass er binnen einer Woche nach der mündlichen Verkündung des Urteils Rechtsmittel habe einlegen müssen. Eine schriftliche Rechtsmittelbelehrung sei dem Angeklagten nicht erteilt worden. Anders als es die in der Geschäftsstelle des Amtsgerichts tätige Justizangestellte ██████████ in einer dienstlichen Äußerung zur Akte gebracht habe, habe der Angeklagte nicht am Tag nach der Hauptverhandlung vom 14.07.2016 bei der Geschäftsstelle angerufen und gefragt, wann er das Urteil bekommen würde. Er habe vielmehr erst am 26.07.2016 beim Amtsgericht telefonisch nachgefragt, wobei ihm mitgeteilt worden sei, dass die Rechtsmittelfrist abgelaufen sei.

Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, den Wiedereinsetzungsantrag als unbegründet zu verwerfen.

Der nach § 44 StPO statthafte Antrag auf Wiedereinsetzung des Verfahrens in den Stand vor Versäumen der Berufungsfrist ist zulässig und begründet.

Denn es ist glaubhaft, dass der Angeklagte im Sinne des § 44 Satz 2 StPO unverschuldet daran gehindert war, die mit der mündlichen Urteilsverkündung beginnende einwöchige Frist zur Berufungseinlegung einzuhalten.

Dies folgt daraus, dass der Angeklagte, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, durch das Amtsgericht trotz der mündlich erteilten Rechtsmittelbelehrung nicht ausreichend nach § 35a StPO über die Rechtsmittelfristen belehrt worden ist. Eine nicht ausreichende Belehrung steht einer nicht erteilten Belehrung i. S. d. § 44 Satz 2 StPO gleich.

Zwar stellt der Umstand, dass einem Angeklagten in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung entgegen Nr. 142 Abs. 1 S. 2 der Richtlinien für das Straf- und das Bußgeldverfahren (RiStBV) kein Merkblatt über die Möglichkeiten und Förmlichkeiten der Rechtsmitteleinlegung ausgehändigt, sondern lediglich eine mündliche Rechtsmittelbelehrung erteilt worden ist, für sich allein keinen Verstoß gegen § 35a Satz 1 StPO dar, der zur Folge hätte, dass die Versäumung der Berufungsfrist als unverschuldet anzusehen ist (vgl. KG, Beschluss vom 01.07.2015, Az. 3 Ws (B) 294/15 m. w. N. zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, juris). Denn § 35a StPO schreibt für Rechtsmittelbelehrungen keine bestimmte Form vor und das Bundesverfassungsgericht hat keine generelle Pflicht zur Aushändigung eines Merkblattes gefordert (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 28.02.2007, 2 BvR 2619/06; KG, Beschluss vom 01.07.2015, Az. 3 Ws (B) 294/15, juris).

Es entspricht jedoch der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 21.12.1995, Az. 2 BvR 2033/95 m.w.N.; Nichtannahmebeschluss vom 28.02.2007, 2 BvR 2619/06; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 05.11.2012, Az. 1 Ws 194/12 m.w.N., juris), dass es die richterliche Fürsorgepflicht gebietet, einen nicht anwaltlich vertretener, rechtsunkundiger Angeklagter ergänzend durch Aushändigung eines Merkblatts zu belehren, wenn es sich um eine schwierige Belehrung handelt.

Ausgehend von dieser Rechtsprechung war dem Angeklagten aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden Falls eine schriftliche Rechtsmittelbelehrung zu überlassen, auch wenn die Belehrung über die einwöchige Berufungsfrist nach § 314 Abs. 1 StPO keine schwierige Belehrung ist und zu ihrer Erfassung grundsätzlich ein durchschnittliches Denk- und Auffassungsvermögen genügt (vgl. dazu Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 05.11.2012, Az. 1 Ws 194/12 m. w. N.).

Aus dem Protokoll der erstinstanzliehen Hauptverhandlung ergibt sich, dass das Amtsgericht im vorliegenden Fall konkrete Anhaltspunkte dafür hatte, dass der Angeklagte aufgrund von Defiziten in der deutschen Sprache möglicherweise eine ihm allein mündlich erteilte Rechtsmittelbelehrung nicht verstehen konnte. Denn der Angeklagte hat sich gegen den Vorwurf, eine Beleidigung begangen zu haben, gerade mit Defiziten in seinem Sprachverständnis und seiner Ausdrucksfähigkeit verteidigt. Hinzu kommt, dass der Zeuge ███████ bei seiner Vernehmung berichtet hat, der Angeklagte sei im Rahmen der von ihm durchgeführten Verkehrskontrolle sehr aufgebracht, uneinsichtig und verbal aufbrausend gewesen. Dies legt es nahe, dass sich der Angeklagte nicht nur anlässlich der Begegnung mit dem Polizeibeamten sondern auch im Rahmen der gerichtlichen Verhandlung emotional erregt hat und ihm dadurch das Verstehen der mündlich erteilten Rechtsmittelbelehrung zusätzlich erschwert war.

Dafür dass der Angeklagte die ihm mündlich in der Hauptverhandlung erteilte Rechtsmittelbelehrung, wie auch den durch die Justizangestellte ██████████ in ihrer dienstlichen Äußerung geschilderten Hinweis auf die Wochenfrist in einem Telefonat vom 15.07.2016 tatsächlich nicht verstanden hat, spricht, dass er - wie sich sowohl aus der anwaltlichen Versicherung des Verteidigers vom 20.01.2017 (Bl. 62 d. A.) als auch aus der dienstlichen Äußerung der Justizangestellte ██████████ (Bl. 50 d. A.). ergibt - am 26.07.2016 erneut beim Amtsgericht angerufen und wiederum nachgefragt hat, was er gegen das Urteil unternehmen könne.

Die Wiedereinsetzungsfrist des § 45 Abs. 1 StPO ist eingehalten, denn nach dem dem Angeklagten am 26.07.2016 durch das Amtsgericht erteilten Hinweis, die Berufungsfrist sei abgelaufen, hat er bereits am 27.07.2016 über den Verteidiger den Wiedereinsetzungsantrag stellen lassen.