Pflichtverteidigung bei Analphabeten

» LG Chemnitz, Beschluss vom 17.05.2017 - 2 Qs 200/17 «

Kurzzusammenfassung

Der Mandant konnte als Analphabet weder lesen noch schreiben. Er war daher nicht in der Lage, sich in angemessenen Umfang selbst vor Gericht zu verteidigen. Das Amtsgericht war jedoch der Meinung, dass dies keine Rolle spiele, da er schließlich für die Hauptverhandlung einen Dolmetscher zur Seite gestellt bekomme. Auch habe er die Anklageschrift in seiner Muttersprache erhalten. Die ihm vorgeworfene Körperverletzung sei seinem Kulturkreis nicht fremd, vielmehr würde er auch in seinem Heimatland dafür zur Verantwortung gezogen werden.

Das Landgericht Chemnitz sah dies jedoch mit uns und der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur anders. Es hob den Beschluss des Amtsgerichts auf unsere Beschwerde hin auf und bestellte Herrn Rechtsanwalt Just zum Verteidiger des Angeklagten. Nach mehrstündiger Hauptverhandlung endete das Verfahren für den Mandanten mit einem Freispruch. Nachstehend finden Sie die Entscheidung im Volltext:


Volltext der Entscheidung


In dem Strafverfahren gegen

█████████ █████████████,
geboren am ████████ in ██████████/Mazedonien, Staatsangehörigkeit: mazedonisch, wohn­haft: ███████████████ ████, █████████████

Verteidiger:
Rechtsanwalt Jürgen Just, Großneumarkt 24, 20459 Hamburg

wegen gefährlicher Körperverletzung
hier: Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers

ergeht am 17.05.2017
durch das Landgericht Chemnitz - 2. Strafkammer als Beschwerdekammer - nachfolgende Entscheidung:

1. Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Döbeln vom 02.05.2017 (Az. 3 Ds 430 Js 9339/17) aufgehoben.

2. Dem Angeklagten wird Rechtsanwalt Jürgen Just als Pflichtverteidiger bestellt.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstan­denen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.

GRÜNDE

I.

Der Angeklagte ist mazedonischer Staatsangehöriger. Er ist Analphabet. Ihm liegt gemäß An­klageschrift der Staatsanwaltschaft Chemnitz vom 14.03.2017 gefährliche Körperverletzung in 4 tateinheitlichen Fällen zur Last. Mit Schreiben seines Verteidigers vom 21.04.2017 beantrag­te er die Bestellung seines Verteidigers zum Pflichtverteidiger. Er beruft sich darauf, dass eine Pflichtverteidigerbestellung gem. § 140 Abs. 2 StPO geboten sei, weil die Sach- und Rechtslage schwierig sei und weil er nicht in der Lage sei, sich selbst zu verteidigen. Gegen den ableh­nenden Beschluss des Amtsgerichts Döbeln vom 02.05.2017 legte der Angeklagte mit Schreiben seines Verteidigers vom 09.05.2017 Beschwerde ein.

Für weitere Einzelheiten wird auf den Antrag vom 21.04.2017, den Beschluss vom 02.05.2017, die Beschwerdeschrift vom 09.05.2017 und den weiteren Akteninhalt Bezug ge­nommen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO vor.

Für die Notwendigkeit einer Verteidigung genügt es, wenn an der Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen (Meyer-Goßner, Kommentar zur StPO, § 140, Rdnr. 30 m.w.N.).

Im Falle des Angeklagten bestehen solche Zweifel bereits auf Grund der Tatsache, dass die­ser Analphabet ist. Der Angeklagte bestreitet die ihm zur Last gelegten Taten und behauptet, er sei seinerseits von den mutmaßlichen Geschädigten angegriffen worden. Es wird deshalb im Rahmen der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht notwendig sein, die mutmaßlichen Geschädigten als Zeugen zu hören und deren Aussagen vor dem Hintergrund einer abwei chenden Sachverhaltsschilderung des Angeklagten zu würdigen. Der Verteidiger des Ange­klagten hat hierzu nachvollziehbar dargelegt, dass eine sachgerechte Verteidigung zum einen Akteneinsicht voraussetzt und dass es ferner im Rahmen der Hauptverhandlung notwendig sein wird, den Zeugen Vorhalte aus den Vernehmungsprotokollen zu machen und auch das rechtsmedizinische Sachverständigengutachten zu überprüfen. Dies ist dem Angeklagten als Analphabet ohne Verteidiger nicht möglich (vgl. auch OLG Celle, Beschluss vom 14. Februar 1983- 3 Ws 45/83 -, juris; OLG Celle, Beschluss vom 01. September 1992- 1 Ss 256/92-, juris; Landgericht Hildesheim, Beschluss vom 09.11.2007, 12 Qs 57/07, veröffentlicht in: NJW 2008, 454).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO analog.